K. J. Kuhn: Entwicklungspolitische Solidarität

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Titel
Entwicklungspolitische Solidarität. Die Dritte-Welt-Bewegung in der Schweiz zwischen Kritik und Politik (1975–1992)


Autor(en)
Kuhn, Konrad J.
Erschienen
Zürich 2011: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
461 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Markus Furrer, Pädagogische Hochschule Zentralschweiz

Konrad J. Kuhn beleuchtet in seiner Studie, die er als Dissertation an der Universität Zürich vorlegte, die Entwicklung der «Dritte-Welt-Bewegung» im Zeitraum von 1975–1992. Mitte der 1970er Jahre formierte sich auch in der Schweiz ein starker Strang im Kontext der damals entstehenden «Neuen sozialen Bewegungen», welcher sich als «entwicklungspolitische Solidaritätsbewegung» verstand. Dabei konnte sich die Bewegung auf die schweizerische außenpolitische Tradition der Solidarität in der Nachkriegszeit abstützen, welche die Maxime der Neutralität ergänzte und nach außen zu legitimieren hatte. Anders als die im politischen Mainstream verankerten Entwicklungsorganisationen, kritisierte die Bewegung jedoch die Indienstnahme der Entwicklungspolitik als außenpolitische Zweckorientierung und wirtschaftliche Nutzenorientierung. Solidarität erhielt bei ihr eine moralisch-normative Konnotation. Sie begriff Auslandhilfe nicht mehr länger als zentrales Element der «humanitären Tradition» und lehnte die damit aus ihrer Sicht verknüpften wirtschaftlichen und politischen Eigeninteressen von Staat und Wirtschaft ab. Entwicklungspolitik wurde so ab den späten 1960er Jahren zu einem heftig umstrittenen Diskursfeld. Die Bewegung lässt sich als äußerst heterogener Kreis verstehen, der sich aus entwicklungspolitischen Aktionsgruppen, Lobbyorganisationen, studentischen Gruppen der politischen Linken, Hilfswerken, länderbezogenen Solidaritätskomitees, Dritt-Welt-Läden sowie weiteren Gruppen, die sich um Themen wie Bewusstseinsbildung, Rassismus, Hunger, multilaterale Entwicklungsorganisationen oder auch Handelsfragen formte. Indem nach 1989 die Gegenüberstellung von Erster und Zweiter Welt überflüssig wurde, geriet auch das Dritte-Welt-Konzept in die Krise. Zeitlicher Schlusspunkt für die Untersuchung ist die UNO-Konferenz über Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro 1992. Für Kuhn stellt dies eine Zäsur dar, fächerte sich doch mit dem Ansatz der «nachhaltigen Entwicklung» die Entwicklungspolitik derart weit auf, dass sie für entwicklungspolitische Basisgruppen, wie sie typisch für die Dritte

Welt-Bewegung waren, kaum mehr fassbar und politisierbar war. Hinzu kam, dass sich mit dem weltpolitischen Umbruch 1989/91 ein Großteil der Entwicklungsanstrengungen auf Osteuropa verlagert hatte.

Konrad J. Kuhn untersucht Entwicklung und Verlauf der Solidaritätsbewegungen in den langen 1980er Jahren (Damir Skenderovic und Gianni D’Amato) entlang wichtiger ausgewählter Diskurse, Aktionen und Volksabstimmungen, so das schweizerische Symposium der Solidarität 1981, die Aktion «Entwicklungshilfe als Überlebensfrage 1983–1984, die «Bankeninitiative » 1978–1984, weiter die Diskurse um alternative Lebensstile rund um die Hungerthematik, die Debatte um Entschuldung sowie die Beitrittsfrage (Volksreferendum) zu IWF und Weltbank. Die Studie steht mit diesem Ansatz in der Tradition einer «Kulturgeschichte des Politischen», wie es der Autor formuliert. Er untersucht einzelne Diskursereignisse des entwicklungspolitischen Diskurses und verbindet kulturgeschichtliche Einstellungen mit einer sozialgeschichtlichen Kontextualisierung. So wird nicht von «Politik», sondern vom «Politischen» gesprochen und das Interesse richtet sich auf die symbolische Vermittlung von Politik.

Entwicklungsverlauf und gesellschaftlicher Rückhalt der Bewegung lassen sich entlang der untersuchten Diskursereignisse gut veranschaulichen. Die primär links stehende Bewegung formierte sich in den 1970er Jahren als Gegenkraft und war von dependenztheoretischen und antiimperialistischen Denkschulen geprägt. Ihr standen die schweizerische Wirtschaft und die großen bürgerlichen Parteien gegenüber, welche nach wie vor von einer Harmonie zwischen den Interessen von Exportwirtschaft und Entwicklungsinteressen der Dritten Welt ausgingen. Die Hilfswerke als dritte Gruppe standen in einer schwierigen Mitteposition. Insbesondere kirchliche Hilfswerke, die sich auf eine heterogene Basis stützten, gerieten unter Druck. Das bereits 1981 angedrohte Referendum gegen einen Beitritt der Schweiz zu den Bretton-Woods-Institutionen wirkte in dieser Phase noch einend und mobilisierend für die Bewegung und die Hilfswerke, die sich als referendumsfähig erwiesen hatten und fortan vermehrt auch innenpolitische Belange politisierten.

Dennoch fehlte der Bewegung eine gemeinsame theoretische Basis in den 1980er Jahren, was zu ihrer Selbstmarginalisierung führte. Offenkundig waren die Spannungsverhältnisse zwischen Hilfswerken und der Bewegung. Am Ende des Jahrzehnts manifestierte sich die definitive Spaltung mit der 1992 gescheiterten Abstimmung über das Referendum gegen den Beitritt der Schweiz zum Internationalen Währungsfonds und zur Weltbank. Konrad J. Kuhn zeigt mit seiner Studie anschaulich die Rolle und Bedeutung von Neuen sozialen Bewegungen im politischen System der Schweiz auf, bei dem mittels direktdemokratischer Einflussmöglichkeiten auf die Außenpolitik des Landes Einfluss genommen werden kann. Mit seinem diskurstheoretischen Ansatz werden die Wechselwirkungen zwischen Bewegung und Mehrheitsgesellschaft vor dem Hintergrund wechselnder gesellschaftlicher, kultureller wie auch politischer und ökonomischer Konstellationen sichtbar. Interessante Hinweise liefert die Studie auch für weitere Zusammenhänge, so zum Schweizer Bankgeheimnis, das 1984 durch den Kampf um die «Bankeninitiative» zu jenem nationalen Mythos und «unantastbaren Symbol der schweizerischen Unabhängigkeit » werden konnte und bis in die Gegenwart wirkt.

Zitierweise:
Markus Furrer: Rezension zu: Konrad J. Kuhn, Entwicklungspolitische Solidarität. Die Dritte-Welt-Bewegung in der Schweiz zwischen Kritik und Politik (1975–1992), Zürich, Chronos Verlag, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 107, 2013, S. 487-488.

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